Prolog

Emil Behr wird am 27. Juni 1900 als das dritte von sechs Geschwistern einer deutsch-jüdischen Familie geboren. Er ist gelernter Maschinenschlosser und bis 1933 als Elektromonteur beim Elektrizitätswerk Badenwerk tätig. Im Zuge des ›Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ wird er entlassen. Nach jahrelanger Arbeitslosigkeit erhält er 1938 eine Anstellung als Hausmeister des Jüdischen Altersheimes in Neustadt/Weinstraße. Während der größte Teil von Emils Familie angesichts der antisemitischen Verfolgung in die USA emigriert, bleibt Emil Behr mit seiner Frau Hedwig und ihrem gemeinsamen, 1920 geborenen Sohn Werner, in Deutschland. Emil Behr lebt bis zu seinem Tod in Karlsruhe.

Monique Behr ist die Tochter von Werner Behr. Ihre Mutter übergab ihr vor einigen Jahren eine Kiste, in der sich weit über einhundert Briefe und persönliche Dokumente ihres Großvaters Emil befinden. Die Briefe aus der Zeit des Natio- nalsozialismus und den Jahren nach 1945 bildeten die Grundlage für ein literatur- wissenschaftliches Seminar, das Monique Behr zusammen mit dem Germanisten Jesko Bender über zwei Jahre hinweg an der Goethe-Universität Frankfurt leitete. Gemeinsam mit den Studierenden Anne-Marie Bernhard, Katharina Fabel, Paul Lins, Patrick Schwentke, Lea Welsch und Céline Wendelgaß wurde ein Ausstel- lungskonzept entwickelt, das die Briefe zum einen als historische Dokumente, zum anderen als individuelle Zeugnisse begreift.


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Das Narrativ, die Protagonisten, Konzeptuelles

Folgende Stimmen sprechen

A         Zitate jeglicher Art
B         Familie
C         Aushandlung 1
D        Aushandlung 2

Die Gesamtatmosphäre der Stimmen sind nüchtern, sie sprechen grundsätzlich recht abgeklärt. Diese Stimmung wird nur in wenigen Passagen durchbrochen, diese sind jeweils mit kurzen Anweisungen versehen. Die kursiv gedruckten Worte sind betont.

A: Prolog. Das Narrativ, die Protagonisten, Konzeptuelles.

B: „Vielleicht findest Du etwas, was Du bei der Geburtstagsrede auf Deinen Vater verwenden kannst.“ Mit diesen Worten übergab mir während der Vorbereitungen eines Familienfestes, meine Mutter eine Kiste. Sie war nicht sehr groß, und beim Abheben des Deckels erblickte ich einen Aktenordner und einen Packen Briefe. Für eine feierliche Rede schien mir das, was ich vorfand, wenig geeignet. In einem Ordner mit der lapidaren Aufschrift »Arbeitsverträge/KZ-Haft«, fand ich Dokumente, die mir Aufschluss über eine Zeit geben sollten, über die nie in unserer Familie geredet wurde.

A: Aus einer frühen Version eines Ankündigungstextes für die Ausstellung, Oktober 2010: Was uns als Ausgangsmaterial dient sind Briefe, Postkarten, Protokolle, amtliche Dokumente aus dem Zeitraum zwischen 1938 und 1959. Es handelt sich um Ausschnitte einer Familiengeschichte, gleichzeitig sind es historische Quellen, Zeitzeugnisse.
Das Konvolut stammt aus dem Privatbesitz von Monique Behr, Tochter von Werner, Enkelin von Emil, sie ist eine der Kuratorinnen der Ausstellung Emil Behr. Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz.

B: Mama hat Vorbehalte, die Briefe auszustellen. Das sei doch sehr persönlich. Ich entgegne, dass es sie doch auch immer sehr anspricht, wenn vergangene Zeiten durch Persönliches vermittelt werden. Wieso sollten wir jetzt nicht anderen diese Möglichkeit geben?
In der Sitzung, in der ich das Briefkonvolut zum ersten Mal präsentiere und darüber sprechen will, habe ich einen solchen Kloß im Hals, dass ständiges Wasser-trinken die raue Stimme nicht weg bekommt.
Wie nenne ich jetzt diese mir bekannten Personen? Werner oder mein Vater, Emil oder mein Großvater – ich habe keine Probleme hin- und her zuspringen.

C: Ist es nicht so, dass ein Brief immer seinen Adressaten erreicht. Ein Brief ist immer mehr als nur eine intime Kommunikation zwischen zwei Menschen, er ist es schon dadurch, dass im Moment des Schreibens der Adressat ein Imaginärer ist – er oder sie ist abwesend, sonst würde man keinen Brief schreiben. Ein Brief ist in einem gewissen Sinne immer unbestimmt adressiert, wie eine Flaschenpost.

D: In dem Moment, in dem wir die Briefe von Emil Behr lesen, sind wir automatisch dessen Adressaten – auch wenn er uns und überhaupt Menschen außerhalb seiner Familie ganz sicher nicht im Kopf hatte, als er die Briefe schrieb.

C: Es geht darum, dass wir uns von den Briefen gemeint fühlen, dass wir sie nicht einfach als historische Dokumente auf Distanz halten können.

B: Jede weitere Sitzung mit den Dokumenten distanziert mich auf angenehme Weise von den mir bekannten Familienmitgliedern. Sie werden zu Personen, denen ich auf Augenhöhe begegne und das mit großer Sympathie. Nach zwei Jahren Beschäftigung mit den Dokumenten liegt es mir näher Werner zu sagen, statt „mein Vater“. Wäre das auch so, wenn er noch leben würde? Erst in der Auseinandersetzung mit diesen vielen Briefen ist mir die Frage in ihrer Tragweite klar geworden:
Was bedeutet es, die Briefe von Menschen zu lesen, die tot sind, mit denen ich nicht mehr sprechen kann?

D: Das meinst du mit Zeugenschaft? Dass wir, in dem wir die Briefe lesen, zu Zeugen werden?

C: Es geht vor allem darum, eine Szene der Zeugenschaft herzustellen. So eine Szene stellt sich über ein Gespräch her.

D: In unserem Fall können wir nicht mit Emil Behr reden.

C: Es ist eine inszenierte Szene der Zeugenschaft. Sie stellt sich im Lesen der Dokumente ein, über die Art und Weise, wie wir sie lesen.

D: Darin liegt der Unterschied zu einer rein historischen Rekonstruktion, in der es darum geht, eine Geschichte lückenlos aufzudecken, nachzuzeichnen, sich an das Faktische zu halten – nicht ans Subjektive.

C: Das eigene Lesen mit reflektieren, die eigenen Irritationen zum Ausgangspunkt nehmen. Die Besucher auf diese hinweisen.

D: Historische Fakten, objektive Zusammenhänge sind unerlässlich und Voraussetzung für jedes Sprechen über Geschichte, jedoch sehe ich ein Problem darin, dass dort keine Reflexion über das eigene Erzählen stattfindet. Was passiert da mit den Leuten? Was passiert mit uns, mit mir, heute, jetzt, wenn ich das lese? Was liegt da abgespeichert im Postnazimus?

A: Aus dem Antrag auf eine Anschubfinanzierung des Ausstellungsprojekts, April 2010:
Auf inhaltlicher Ebene besteht das Ziel darin, eine Ausstellung zum Thema Zeugenschaft zu konzipieren und umzusetzen – im Zentrum wird dabei eine Auswahl aus dem Konvolut der weit über 100 Briefe von Werner und Emil Behr stehen. Die inhaltliche Herausforderung liegt darin, ethische und texttheoretische Ansätze zur Zeugenschaft mit den in Briefform vorliegenden empirischen Zeugnissen zu verbinden und so beide Dimensionen der Zeugenschaft in einer Ausstellung sichtbar zu machen. Für diese Koppelung -

B: Als  Kind  fragte  ich  Emil,  wieso  er  eine  Nummer  auf  dem Arm  hätte.  Unvergessen  seine Antwort, vor allem seine Blickverbindung zu meinem Vater: sie lächelten sich an, so wie es dies in meiner Erinnerung nur dieses eine Mal gibt, und er antwortete: weil ich mir als Kind meine Telefonnummer nicht merken konnte.

A: Für diese Koppelung ist unserer Auffassung nach die Form des universitären Seminars in Verbindung mit einer praxisorientierten Übung ideal. Mit diesem inhaltlichen Konzept thematisieren wir einen wichtigen Aspekt der Zeugenschaft im 21. Jahrhundert: die Briefe sind zum einen historische Dokumente...

C: Es geht letztlich um zwei Fragen: Wer schreibt? Und: wer liest?