1943-1944
Nahezu alle in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden werden im Juli 1939 zwangsweise zu Mitgliedern der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland erklärt. Während die Vorgängerorganisation, die Reichsvertretung der Juden in Deutschland, ein freiwilliger Zusammenschluss jüdischer Organisationen war, untersteht die Reichsvereinigung dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und der jeweils örtlichen Gestapo. Die Reichsvereinigung hat demnach einen Doppelcharakter: einerseits ist sie Ansprechpartnerin und Interessenvertretung der Jüdinnen und Juden, andererseits soll sie die Auswanderung vorantreiben und andere antijüdische Maßnahmen umsetzen. Am 10. Juni 1943 wird die Reichsvereinigung aufgelöst, ihre Mitarbeiter werden nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Ausgenommen davon sind Juden, die in ›Mischehen‹ leben, so auch Emil Behr.
Die Auflösung der Reichsvereinigung ist langwierig und kompliziert, es existieren zahlreiche jüdische Einrichtungen weiter, darunter das Siechenheim mit Krankenstation (das ehemalige Altersheim) in Mannheim, das Emil Behr inzwischen leitet. Er ist damit beauftragt, die Auflösung des Heims zu organisieren. Ein Gehalt bezieht er jedoch nicht mehr, obwohl sein Vertrag aus dem Jahr 1938 nie formal gekündigt wurde. Für die Verpflegung der Bewohner streckt er sein eigenes Geld vor. Im September 1943 wendet er sich mit der Forderung an die Zentrale der jetzt ins Leben gerufenen Rest-Reichsvereinigung, ihm sein Gehalt und die Auslagen zu zahlen und droht mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht. Karl Eisemann, Emils regionaler Vorgesetzter, versucht, vermittelnd in die Angelegenheit einzugreifen. Er kennt die Verstrickungen von Reichsvereinigung und RSHA und befürchtet schwerwiegende Konsequenzen. Emil Behr kennt diese Hintergründe nicht und reicht die Klage ein. Im Februar 1944 wird er verhaftet und erhält am 8. Mai 1944 einen Schutzhaftbefehl.
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Emil Behrs Auseinandersetzung mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland
Folgende Stimmen sprechen
A Zitate jeglicher Art
B Familie
C Aushandlung 1
D Aushandlung 2
Die Gesamtatmosphäre der Stimmen sind nüchtern, sie sprechen grundsätzlich recht abgeklärt. Diese Stimmung wird nur in wenigen Passagen durchbrochen, diese sind jeweils mit kurzen Anweisungen versehen., Die kursiv gedruckten Worte sind betont.
A: Kapitel 2. Emil Behrs Auseinandersetzung mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.
D: Puh, ich habe mich jetzt durch die Ganzen Briefe gekämpft und so langsam versteh ich es. Also: Emil wurde 1938 als Hausmeister im Israelitischen Altersheim für die Pfalz in Neustadt angestellt. Nach seiner Rückkehr existierte das Heim nicht mehr – es wurde während der Pogrome niedergebrannt. Aus diesem Grund arbeitete Emil fortan im jüdischen Altersheim in Mannheim, das im Zuge der antijüdischen Gesetzgebung der Nazis der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland unterstellt wurde. Am 10. Juni 1943 wurde die Reichsvereinigung formal aufgelöst, das Altersheim existierte jedoch noch weiter und so arbeitete auch Emil weiterhin dort. Sein Gehalt erhielt er allerdings nicht mehr. Dieses nicht gezahlte Gehalt fordert er dann im September 1943 von der Reichsvereinigung ein.
C: Diese ist jedoch dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt. Emil klagt also indirekt – oder sollte man besser sagen: direkt? – gegen eine Behörde des NS-Staats.
B: In der Sitzung, als wir Emils Klage besprechen, empfinde ich nochmals mehr die Ungeheuerlichkeit dieses bürokratischen Vorgangs. Ich habe den Eindruck, dass es uns allen so geht. Wir versuchen es zu begreifen, es geht schwer.
D: Warum geht es schwer?
C: Das ist wie in einem Roman oder einem Film: ich identifiziere mich mit der Hauptfigur. Und im Streit mit der Reichsvereinigung kommen die Dinge auf sehr tragische Weise in Bewegung. Sind dir die ganzen Wörter aufgefallen, die dort auftauchen?
D: Was meinst du?
C: »Weiterungen«, »Abwanderungen«, »in Verkennung der Sachlage«.
Wenn man das heute liest, hört sich das doch unheimlich an. Wir wissen was passiert ist und passieren wird. Wir können von heute aus, gar nicht anders denken, als von Auschwitz her und auf Auschwitz zu.
A: Harald Welzer im Katalog zu dieser Ausstellung, 2012:
»Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, werden in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr Anderes wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht.«
B: Wir versuchen es zu begreifen, es geht schwer.
A: Aus einem Exposé zur Ausstellung Briefzeugenschaft, Februar 2012:
»Bei der Rekonstruktion der Briefe wird man unfreiwillig in die Lage eines Detektivs gedrängt, der Indizien und Beweise zusammen trägt, um sich ein Bild zu machen. Nur um hinter jeder Tat, hinter jeder Willkür, Spuren des größten Verbrechens aufzudecken. Ein Verbrechen, das bis heute nachwirkt.
Durch die Ermittlung kann jedoch die gestörte Ordnung nicht wiederhergestellt werden, vielmehr ist die quälende Normalität, die sich eingestellt hat, selbst das große Verbrechen. Erschreckend mit welcher Regungslosigkeit und Normalität, mit welch kühlem bürokratischen Aufwand der Massenmord durchgeführt wurde. Das war ernst gemeint und bis in das Detail durchdacht.«
D: Warum macht der das denn? War Emil denn wirklich so naiv, zu glauben, er könne 1943/1944 einfach mal eine Klage gegen eine Institution führen, die den Nazis untergeordnet ist?
A: Emil Behr an die Spruchstelle beim Arbeitsgericht, Berlin, 01. März 1943:
»Hiermit ziehe ich die gegen die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingereichte arbeitsgerichtliche Klage vom 11. Dezember 1943 vorbehaltlos zurück.
Emil Israel Behr.
Jude. Kennort Mannheim. a. 01963«
B: »Wusste der nicht, was er da tut?« hat mich neulich, als ich ihm die Dokumente zeigte, ein mit der NS- und Zeugenschaftsthematik bestens vertrauter Professor völlig ungläubig gefragt. Auch er fand das alles ziemlich naiv von Emil. Aber Emil Naivität oder Unwissenheit zu unterstellen, finde ich, gelinde gesagt, problematisch. Natürlich ist das von heute aus gesehen eine naheliegende Reaktion, wir wissen schließlich um die Geschichte. Aber einer solchen Haltung liegt doch auch das Bedürfnis zu Grunde, Emils Geschichte von sich fern zu halten, seinen unerschütterlichen Glauben an das Recht.
D: An welches Recht denn?!
B: Der Brief vom 8. Mai 1944, der zweite, als Emil das Schreiben von Kaltenbrunner erhält, berührt mich jedes Mal wieder von Neuem. Ich glaube noch nicht mal aus dem Grund, weil dies meinem eigenen Großvater widerfuhr. Die Emotionen kriechen die Fingerspitzen hoch.
A: Aus einer E-Mail Korrespondenz zwischen den Kurator/innen der Ausstellung. E-Mail vom 28. November 2010, 22:53 Uhr:
»Ich habe heute den Briefwechsel zwischen Emil Behr und den Behörden im Rechtsstreit mit der Reichsvereinigung fertig gelesen. Am 30. April kommt der Bescheid von der Gestapo, dass er in Haft kommt. Eine Woche später am 08. Mai schreibt er seiner Familie. Das erste mal geht mir diese ganze Geschichte so richtig nahe. Ich war die ganze Zeit eher kühl gegenüber Emil Behr, konnte ihn nicht fassen. Als Menschen. Doch er schreibt merklich aufgewühlt. Wie sonst kaum. Der Satz:
„Meine Lieben, was hat das zu bedeuten, ich bin vollständig fertig, ist das der Befehl zum K.Z.“ Ohne Fragezeichen. Als wüsste er es. Ein Jahr später ist dann alles vorbei, zumindest der Krieg.
Wie lange so ein Jahr sein kann. Wieso macht er das nur? Er bleibt mir doch fremd. Muss ich mich zu ihm überhaupt verhalten?«
D: An welches Recht denn?!
C: An das Recht, innerhalb dessen er zum Staatsbürger wurde. Er ist immerhin 1900 geboren. Es gibt in dem Streit mit der Reichsvereinigung genügend Anhaltspunkte, die Emils Wahrnehmung naheliegend erscheinen lassen: etwa die minutiöse juristische Korrespondenz, es gab ja sogar einen jüdischen Anwalt, der Emil vertrat, Hermann Hauser.
D: Das ist mir auch aufgefallen.
C: Wen sollte er also anrufen, wenn nicht das Recht des Staates, in dem er lebt, in dem seine Kinder und seine Ehefrau leben? Und überhaupt: Wieso sollte er davon ausgehen, dass er sich mit einer Klage in Lebensgefahr begibt, sie könnte ja auch einfach abgewiesen werden und fertig.
Kann es etwas unheimlicheres geben, als dass sich die Instanz, die einen zum Bürger macht, gegen einen wendet? Und versuchen wir nicht durch eine "wissende" Position die unheimliche Verunsicherung, die uns aus solchen Briefen anspricht, zu verdrängen?
D [verärgert]: Was verdränge ich denn bitteschön, wenn ich sage, dass Emil Behr naiv und draufgängerisch war? Dass er es hätte besser wissen können? Er hat doch mitbekommen, was mit Juden passiert, er musste ja sogar bei der Auflösung des Altersheims mitarbeiten. Und er war bereits 1938 in Dachau!
C [leicht empört]: Aha, und nach Dachau hätte er klüger sein müssen, oder was? Am Ende ist er noch selber Schuld?
D [mit Nachdruck]: Wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht geklagt hätte, wäre er eventuell verschont geblieben. Es war schließlich 1943 und trotz Propaganda hätte man wissen können, dass es zu Ende geht.
C [ruhig]: Damit tust du so, als könnte er über seine eigene Verfolgung entscheiden. Ganz nebenbei spricht man dann auch nicht mehr über die Täter. Was soll das?
D: Mein Großvater war in Auschwitz, als Deutscher, der für die IG-Farben gearbeitet hat.
C: Das klingt jetzt wie ausgedacht.
D: Ist es aber nicht. Selbst in einer irgendwie linken Familie aus der ich komme, hat es Ewigkeiten gedauert, bis wir einmal drüber geredet haben. Das gab dann auch gleich Konflikte, der Familienfrieden war in akuter Gefahr und ich schätze mal, er wäre immer noch in Gefahr, wenn wir wieder darüber sprächen. Tun wir aber nicht. Wir sprechen nicht. Ich weiß nicht, was genau das mit meinem heutigen Blick auf den NS macht, aber dass es etwas mit mir macht, da bin ich mir sicher.
B: Vielleicht waren die Sitzungen über die Auseinandersetzung mit der Reichsvereinigung deshalb so ›schwer‹. Wenn man Emil als naiv oder draufgängerisch bezeichnet und nur noch damit beschäftigt ist, sich zu fragen, warum er klagte, dann ist das mehr als ein Akt der Verdrängung: ein Akt der Wiederholung. Sich nicht berührt fühlen, die Situation von ihm kalt hinnehmen, während man denkt: warum hat er denn auch nicht still gehalten?
A: Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, Vortrag im Hessischen Rundfunk, gehalten am 18. April 1966:
Wohl sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft wirklich sind; wären sie also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. (…) Das erste wäre darum, der Kälte zum Bewußtsein ihrer selbst zu verhelfen, der Gründe, warum sie wurde.