1944-1945

Emil Behr wird am 17. Mai 1944 in das Stammlager von Auschwitz deportiert. Dort muss er in der Elektroabteilung arbeiten. Seine Briefe werden zensiert. Der Inhalt der Briefe besteht größtenteils aus Grüßen, Erkundigungen nach Verwandten, Aussagen über den guten Gesundheitszustand sowie Dank für erhaltene Post und Pakete – die Lagerkommandantur hatte aufgrund der kriegsbedingt schwierigen Versorgungslage entschieden, dass wichtige Arbeits- kräfte Lebensmittelpakete empfangen dürfen. Von der Gewalt, die er in Auschwitz erleidet und deren Zeuge er wird, kann Emil Behr in den Briefen nicht berichten. Neun von ihnen sind erhalten geblieben.

Kurz bevor die Rote Armee Auschwitz befreit, wird Emil Behr im Januar 1945 auf einen der Todesmärsche geschickt. In Gusen, einem Nebenlager von Mauthausen, wird er schließlich am 5. Mai 1945 von den amerikanischen Truppen gerettet.


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Neun Briefe von Emil Behr aus Auschwitz

Folgende Stimmen sprechen

A         Zitate jeglicher Art
B         Familie
C         Aushandlung 1
D        Aushandlung 2

Die Gesamtatmosphäre der Stimmen sind nüchtern, sie sprechen grundsätzlich recht abgeklärt. Diese Stimmung wird nur in wenigen Passagen durchbrochen, diese sind jeweils mit kurzen Anweisungen versehen., Die kursiv gedruckten Worte sind betont.

A: Kapitel 3. Neun Briefe von Emil Behr aus Auschwitz.

B: Als  Kind  fragte  ich  Emil,  wieso  er  eine  Nummer  auf  dem Arm  hätte.  Unvergessen  seine Antwort, vor allem seine Blickverbindung zu meinem Vater: sie lächelten sich an, so wie es dies in meiner Erinnerung nur dieses eine Mal gibt, und er antwortete: weil ich mir als Kind meine Telefonnummer nicht merken konnte.

C:  Bei  dem  Brief  vom  13. August  1943  handelt  es  sich  um  den  ersten  Brief  von  Emil  aus Auschwitz, der noch erhalten ist. Offenbar gab es davor schon einen, zumindest lässt die Nummerierung über der Adresszeile darauf schließen. Wobei, diese Nummern verlieren sich dann auch bei den späteren Briefen.

D: Was von den Briefen liest man? Gehören die Mitteilungen des Lagerkommandanten im Auszug aus der Lagerordnung nicht auch zu der Botschaft, die mit dem Brief an Hedwig und Werner gesendet wird?

C: Auf der Briefmarke das Konterfei von Adolf Hitler, die Mitteilung des Lagerkommandanten auf der Außenseite des Briefes, das streng linierte Briefpapier und vor allem: der Zensur-Stempel. Dazu dann noch stereotyp wiederkehrende Sätze wie: »Es geht mir gut«. Von allen Seiten schreien mir diese Briefe entgegen, dass sie Herrschaftsdokumente sind.

[Anmerkung zur Lesart der Briefe aus Auschwitz: bei Abkürzungen wird das volle Wort gelesen, also ›lb.‹ wird ›liebe‹ gelesen etc.; bloße Rechtschreibfehler werden beim Lesen ignoriert (die Worte also gelesen, als seien sie richtig geschrieben; beispielsweise wird ›dahs‹ als  ›daß‹  gelesen),  Fehler  in  der  Grammatik,  Satzbau,  Singular  statt  Plural  etc.  werden gelesen, wie sie in den Briefen auftauchen.]

A: Brief von Emil Behr an Hedwig Behr am 13. August 1944:
»Konzentrationslager Auschwitz
Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Häftlingen zu beachten:

  1. Jeder Schutzhäftling darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Briefe an die Häftlinge müssen lesbar mit Tinte, einseitig und in deutscher Sprache geschrieben sein. Gestattet sind nur Briefbogen in normaler Größe. Briefumschläge ungefüttert. Einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken á 12 Pf. der Deutschen Reichspost beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden.
  2. Geldsendungen sind nur durch Postanweisungen gestattet. Es ist darauf zu achten, daß bei Geld- oder Postsendungen die genaue Anschrift, bestehend aus Name, Geburtsdatum und Nr. angegeben ist. Bei fehlerhaften Anschriften geht die Post an den Absender zurück oder wird vernichtet.
  3. Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Auschwitz bestellt werden.
  4. Die  Häftlinge  dürfen  Lebensmittelpakete  empfangen,  Flüssigkeiten  und  Medikamente  sind jedoch nicht gestattet.
  5. Gesuche an die Lagerleitung zwecks Entlassung aus der Schutzhaft sind zwecklos.
  6. Sprecherlaubnis und Besuche von Häftlingen im Lager sind grundsätzlich nicht gestattet. Der Lagerkommandant.

Stempel: Geprüft KL Auschwitz

Absender
Meine Anschrift: Emil Israel Behr, geboren am: 27.6.1900, Gefangenen Nummer: 188532, Block
16 K.L. Auschwitz, Postamt 2
Auschwitz, den 13.8.44

Meine lb. Frau, mein lb, Sohn!
Hoffe euch gesund, was ich von mir auch sagen kann. Ihr werdet in der Zwischenzeit meinen 1. Brief erhalten haben, und ich hoffe daß einer von euch unterwegs ist. Ich bin sehr beunruhigt, denn ich habe seit 3 Wochen von euch kein Päckchen erhalten, das war für mich immer ein Zeichen dass ihr noch in B.7. seit. Habt Ihr irgend eine Antwort, oder sonst was von Berlin gehört. Wenn ihr mir ein Paket schickt so legt eine Schuhbürste & eine grosse Schachtel Wachs bei. Schreibt nur über alles denn ich weis nicht wie ihr lebt. Lb. Guter Wigl,

B: Lieber guter Wigl, das ist der Kosename, mit dem Emil seine Frau Hedwig immer wieder anredet.

A: zu deinem bevorstehenden Geburtstag wünsche ich dir alles gute. Möge der lb. Gott, alle die Wünsche die du hegst in Erfüllung gehen lassen, möge Er dich gesund erhalten und dir die Kraft verleihen unsere Trennung nicht so schwer fallen zu lassen, möge er unseren sehnlichsten Wunsch, unser gesundes Wiedersehen in nicht allzu ferne Zeit rücken. Empfange von mir einen herzlichen GeburtstagsKuss meine Gedanken werden an dem Tage besonders bei euch weilen. Lb. Werner ich hoffe daß du in deiner alten Stellung bist, und deiner lb. Mutter das bist was du mir versprachst. Herzl. Grüße an alle Verwandte & Bekannte besonders an Ludwigshafen, Dora & Hermann.

C: Hermann, das ist Hermann Hauser, der ehemalige Leiter des Altersheimes in Neustadt, also sein ehemaliger Arbeitgeber, der dann bei Emils Klage gegen die Reichsvereinigung als sein Anwalt fungiert.

A: Seit innig gegrüßt und geküst Euer Euch Vater. Schreibt gleich. Schickt Rauchwaren.

B: Es gibt nur sehr wenig Forschungsliteratur zu den offiziell genehmigten Briefen aus Auschwitz. Betrachtet man diese nur unter dem Aspekt „Herrschaftsdokument“ und stellt den Informationsmangel über die Bedingungen in Auschwitz fest, wird man der Bedeutung solcher Kommunikation nicht gerecht. Es ist spekulativ, aber die anrührenden Liebesbekundungen gaben Werner und Hedwig möglicherweise mehr Kraft als der freie Austausch über die Verhältnisse im Lager.

A: Brief von Emil an Hedwig am 27. August 1944:

»Konzentrationslager Auschwitz

Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Häftlingen zu beachten:

1. Jeder Schutzhäftling darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Briefe an die Häftlinge müssen lesbar mit Tinte, einseitig und in deutscher Sprache geschrieben sein.«

D: Muss man diesen ganzen Formalkram denn wirklich jedes Mal lesen?

C: Ja, ich finde das wichtig. Streng genommen ist das genauso Teil eines jeden Briefes wie Emils Mitteilungen. Und sicherlich werden Hedwig und Werner diese Formalien auch jedes Mal gelesen haben, um nicht Änderungen in der Reglementierung des Briefverkehrs zu verpassen.

D: Aber wir vollziehen hier nicht die Lektüre von Hedwig und Werner nach. Ich bin dafür, das von nun an raus zu lassen. Das wiederholt sich doch dauernd.

A: Gestattet sind nur Briefbogen in normaler Größe. Briefumschläge ungefüttert. Briefumschläge ungefüttert. Briefumschläge ungefüttert. Briefumschläge ungefüttert. Briefumschläge ungefüttert. (Sound/für Katharina Kellermann: TONABNEHMER, der über Schallplatte kratzt)

D: Gerade dann, wenn man versucht, die Formalitäten auf dem Brief zu lesen, stößt man auf dessen Materialität. Er besteht aus mehr als nur den Schriftzeichen darauf. Interessant ist die Anordnung der Zeichen, der Zensurstempel wandert von Brief zu Brief an unterschiedliche Stellen und im zweiten Brief steht in der Zeile ›Geboren am‹ neben Emils Geburtsort »Leimersheim« auch noch »Block 16«.

A: Auschwitz, den 27.8.44
Meine lb. gute Hedwig, mein lb. Werner. Euern Brief vom 8.8. sowie Euer Päckchen & Pakete habe ich erhalten. Über alles habe ich mich sehr gefreut.2 Eier waren faul sonst war alles in Ordnung, herzlichen Dank, rauchst du lb. Werner z.Zt.?, das Päckchen Tabak war schnell verbraucht. Hoffentlich seid ihr gesund was ich von mir auch sagen kann,

D: ›Was ich auch von mir sagen kann‹, so sollte mal unsere Ausstellung heißen. Wir haben den Titel letztendlich verworfen, weil niemandem, dem wir ihn vorgestellt haben, die Zweideutigkeit des Satzes unmittelbar klar geworden.

A: Was ich von mir auch sagen kann, ihr könnt Euch denken, wie ich mich über euren Brief gefreut habe. Ihr könnt Euch kaum vorstellen, und ich erwarte dieser Tage Antwort auf meinen 2. Brief. Habt ihr meine Papiere bei Ell geholt oder behält er sie, grüße ihn.

B: „Ell“, Otto Ell, elektrotechnische Unternehmungen ist Emils ehemaliger Arbeitgeber. Ell beschäftigte Emil von Oktober 1943 bis Februar 44. Ell setzte sich bereits am 30. März 1944, knapp einen Monat nachdem Emil in Mannheimer „Schutzhaft“ kam, in einem Brief für Emils Freilassung ein.

A: Warst du bei Baurs? Frau Brun soll auch an mich denken. Feuersteine für mein Feuerzeug kann ich auch brauchen. Geld braucht ihr mir

keines zu schicken, vielleicht könnt ihr dafür dort was kaufen Marmelade u.s.w. Das Brot ist noch nicht angekommen. Die Grühse von allen Verwandten und Bekann ten erwiedere ich auf das herzlichste besonders Rita, Dora Hermann & Kiefs. Hoffentlich erhältst du diesen Brief an deinem Geburtstag ich gratuliere dir mein lb .Wigl auf das herzlichste und wünsche dir alles gute. Seid für heute ihr beiden Lieben herzlich gedrückt und  geküsst Euer immer an euch denkender Vater.

C: Mitten über die graue Bleistiftschrift der ätzend rote Stempel: »Geprüft KL Auschwitz«, das Zensurzeichen  verbindet  über  drei  Zeilen  hinweg  die  Worte  »gratuliere«,  »herzlichste«  und »heute«. Was für ein vergifteter Geburtstagsgruß.

D: Als wir über die Briefe aus Auschwitz sprechen, reden wir viel über den Eindruck von Enttäuschung. Die Lektüreerwartung stimmt nicht mit dem überein was in den Briefen gesagt wird. Eine Erwartung an Briefe aus Auschwitz? Welche Erwartung kann man an Briefe aus Auschwitz haben?

B: Was mich immer wieder beschäftigt, sind die unterschiedlichen Zeitpunkte der Lektüre: während wir in der Rückschau die Briefe als historische Dokumente und überhaupt das ganze Konvolut lesen, kamen in der Echtzeit die Briefe aus Auschwitz etwa alle zwei Wochen bei Hedwig und Werner an. Jeder Brief hätte der letzte sein können. Immer die Angst, es könnte der letzte sein.

D: Ich hatte keine großen Schwierigkeiten, die Schrift zu lesen. Die ganzen Aufzählungen fallen sofort auf. Immer wieder geht es um Essen, Bekannte und Verwandte werden gegrüßt. Diese Gleichförmigkeit der Briefe, die stereotypen, wiederkehrenden Formulierungen lese ich zunehmend flüchtig. Irgendwie langweilt es mich. Komisch.

C: Die Briefe sind für mich auratische Objekte. Sie waren ja nicht nur Träger von Informationen, wenn auch zensiert, die Briefe aus Auschwitz sind wirklich Lebenszeichen, sie tragen die Spuren von Emil. Er hat sie angefasst, mit seinem Stift das Papier beschrieben, vielleicht sogar mit seiner Spucke die Briefmarke angefeuchtet; man sieht ihnen an, wie oft sie schon auf- und zugeklappt, wie oft sie gelesen wurden. Als ich die Briefe einmal in der Hand hatte, hatte ich das Gefühl, dass sie dieses Authentische haben, aber was sie eigentlich ausmacht längst unwiderruflich vergangen ist. Vielleicht wurde mir dabei klar, dass Briefzeugenschaft bedeutet, sich mit der Tatsache zu konfrontieren, dass die Zeugen tot sind und tot sein werden und sich deren Geschichtserfahrung nicht ›fortzeugen‹ lässt. Dass beständig etwas am verschwinden ist, vergilbt und verblasst wie dieses Papier aus einer entfernten Zeit, die so nahe kommt.

A: Auszug aus der Lagerordnung: Unübersichtliche, schlecht lesbare Briefe werden vernichtet.

C:   Jetzt wechselt auf einmal das Format der Briefe, und auch die Erklärung des Lagerkommandanten bekommt einen anderen Ton.

A: Der Tag der Entlassung kann jetzt noch nicht angegeben werden. Gesuche im Lager sind verboten. Anfragen sind zwecklos.

Eingehende Briefe dürfen nicht mehr als 4 Seiten à 15 Zeilen enthalten und müssen übersichtlich und gut lesbar sein. (...) Die Annahme von Postsendungen, die den gestellten Anforderungen nicht entsprechen, wird verweigert.

D: Aus den neu formulierten Regelungen spricht die Angst vor Geheimbotschaften, die Angst davor, dass hinter irgendwelchen schlecht lesbaren Textstellen etwas versteckt sein könnte.

B: Als könnte nicht auch in gut lesbaren Zeichen eine Geheimbotschaft formuliert sein... Als ließe sich überhaupt die Sprache kontrollieren. Der Zensurstempel hat ja einen paradoxen Effekt: zum einen steht er für die totale Kontrolle des Briefverkehrs, macht klar, dass so vieles ungesagt bleiben muss; zum anderen öffnet er ja ungeahnte Deutungsspielräume, weil er dazu führt, dass man bei der Lektüre gewissermaßen jedes Wort mit einem Fragezeichen versieht. Womöglich wird Hedwig die Briefe viel genauer und assoziationsreicher gelesen haben, als Briefe ohne Zensurstempel.

D: Vor kurzem habe ich etwas über Geheimbotschaften in Briefen aus dem Konzentrationslager Buchenwald gelesen. Ein perfekt ausgeklügeltes System: ob die Jahreszahl vierstellig oder nur zweistellig angegeben war, verwies auf etwas; ein Code war auch, ob die Bögen bei bestimmten Buchstaben hochgezogen waren oder nicht. Das funktioniert auch in schönster Schönschrift. Leider kann man so etwas nur rekonstruieren, wenn noch jemand lebt, der es einem erklären kann.

A: Emil an Hedwig am 8. Oktober 1944: Bitte ein paar Hausschuhe.

D: Hausschuhe, in Auschwitz? Auschwitz, versehen mit einem Attribut der Häuslichkeit, das geht nicht in meinen Kopf.

C: Emil hat Auschwitz sicherlich nicht als zu Hause wahrgenommen.

D: Mir geht es um das bloße Wort: Hausschuhe.

A: Emil Behr am 15. Januar 1947 [Jahreszahl betonen]: »1 Paar warme blaue Hausschuhe«

D: Je länger ich über dieses Wort nachdenke, desto unheimlicher wird es, irgendwie zu intim. Männer in Hausschuhen kennt man nur aus der eigenen Familie, oder?

A: Meine genaue Anschrift:
Schutzhäftling Emil Israel Behr, Nr. 188532, Block 16, Stube 3, KL Auschwitz, Postamt 2, 9a
Frau Hedwig Behr Mannheim (Baden) B.7.2
8.10.44
Mein innigs geliebte Frau, mein liebster Sohn!
Herzlichen Dank für deine lb. Briefe vom 11. u 26.9 sowie deine Pakete No 11 u 12 u 1 Brot das ich alles bei guter Gesundheit erhalt- en habe und hoffe das ihr auch gesund seit. Der Inhalt war gut besonders Kuchen und Marmelade, es ist alles gut angekommen. Das Pa ket von Alfred ist noch nicht eingetroffen, erinnere ihn. Pullover Handschuhe etc. kannst du mir schicken. Lasse den Eis schrank im Keller im Winter wird er ja nicht gebraucht. Die Sachen von Brun waren richtig, zu wenig, kleine Würfel sind willkommen. Bitte ein paar Hausschuhe. Ich möchte dich so gern mit Brille sehen - Habt ihr eine Entscheidung wegen Berlin ge- troffen, schreibt mir darüber. Ich arbeite in meinem Beruf Hoffentlich sind die Sachen in O.Grombach in Ordnung gewesen, auch die Möbel und Koffer im Schwarzwald. Herzl. Grüße an alle. Frau Schumm in N. 4 (Südkauf) soll an mich denken. Seit herzl. Geküßt von Eurem Euch innig liebenden Vater. Grüße an Rita u Eltern Hausers.

D: ›Gesundheitlich geht es mir gut‹ schreibt Emil immer wieder. Was ist das für ein Moment, in dem man einen solchen Satz schreibt? Was macht das mit einem? Emil wurden in Auschwitz alle Zähne ausgeschlagen. Und er ist dazu gezwungen, zu schreiben, dass es ihm gut geht.

B: Wenn man sich solche Fragen stellt, dann wird schnell deutlich, was alles verloren geht, wenn die Zeugen sterben. Ich würde zu gerne wissen, wie die Antwortbriefe aussahen. Haben beide, Werner und Hedwig die Briefe geschrieben, beide jeweils einen Teil? Wie sie sich gefühlt haben, ob die Briefe ihnen Kraft gegeben haben, oder ihnen Kraft genommen haben; was die Briefe für eine Bedeutung im Alltag – im Lageralltag und im Alltag in Mannheim – hatten, das könnten nur Hedwig, Werner und Emil beschreiben. Das hätten nur Hedwig, Werner und Emil beschreiben können. Solche Fragen beantwortet einem kein Historiker und kein Literaturwissenschaftler.

D: Der Brief vom 26. November 1944 wird erst über einen Monat später, am 30. Dezember 1944 abgestempelt.

C: Es sind auch mehr Stempel darauf, vor allen Dingen gibt der Briefstempel nicht Auschwitz / Oberschlesien, wie bisher an, sondern Berlin-Charlottenburg. Und auf dem Brief ist jetzt auch der Stempel des Kriegswinterhilfswerks 1944/1945. Der Reichsadler mit Schwert, darunter der Spruch »Sinnbild unseres Sozialismus«.

B: Ganze sieben Stempel sind auf diesem Brief verteilt; zum ersten Mal kein Zensurstempel.

A: Auschwitz, den 26.11.44 (...) jetzt bleibt mir nur noch übrig Euch ein gutes Weihnachtsfest zu wünschen, ich bitte Euch, das Schicksal, des getrenntsein nicht zu schwer zu nehmen, und den lb. Gott bitten dahs er uns bald wieder vereint. Seid für heute allerherzlichst gegrühst und vielmals geküst von Euerm Vater. Grühse an Rita & Hermann.

D: Je näher die Befreiung von Auschwitz rückt, desto größer wird mein Interesse an ganz konkreten Fragen, die die damalige Zeit betreffen: Wie ging es Emil Behr? War er in irgendeiner Weise informiert über die sich abzeichnende Niederlage Deutschlands? Haben solche Informationen zu Freude geführt, oder zu größerer Angst? Oder lassen sich die Empfindungen gar nicht in diesen Kategorien fassen?

C: Ende November hatte Emil bereits Weihnachtsgrüße gesendet, in seinem letzten Brief vom 10. Dezember 1944 tut er es wieder. Beide Briefe kommen nicht rechtzeitig an, der vom 26 November 1944  trägt den Poststempel vom 30. Dezember 44, der vom 10. Dezember 44 den Stempel vom 23. Januar 1945. Dieser Brief ist offenbar für mehrere Monate das letzte Lebenszeichen, das Hedwig und Werner von Emil erhalten. Emil ist am 5. Mai in Gusen von den US-amerikanischen Truppen befreit worden. Am 18. und 19. Januar gingen die Todesmärsche von Auschwitz aus los.

B: Mit dem Wissen von den Todesmärschen wird auch das Ende von Emils Haft in Auschwitz von einem mulmigen Gefühl begleitet. Trotz der unvermeidbaren Niederlage haben die Nazis die Häftlinge aus den Konzentrationslagern ins ›Reichsinnere‹ getrieben; zigtausende von Gefangenen bei diesem Gewaltmarsch erschossen oder schlicht verhungern und erfrieren lassen. Die Befreiung von Auschwitz hat für viele nicht das Ende der Leidensgeschichte bedeutet, sondern ihr ein weiteres Kapitel hinzugefügt; die Todesfabrik wurde geschlossen, doch der Massenmord ging weiter.

C: Der Todesmarsch sei ein ›Kapitel für sich‹ – mit diesen Worten wird Emil Behr im Protokoll zu den Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess zitiert.

D: In einem anderen Prozess hat Emil Behr eine Aussage bezüglich der Todesmärsche gemacht. Wir sind dieser Spur sehr spät nachgegangen und schließlich ist sie versandet. Manchmal ärgere ich mich sehr darüber, weil wir diese Lücke hätten füllen können. Nein, der Ärger kommt daher, dass es eher ein Müssen ist. Wir hätten die Lücke füllen müssen.

D: Mir kommt wieder das Wort ›Hausschuhe‹ in den Sinn.

D:  Sein  monumentales  Werk  Das  dritte  Reich  und  die  Juden  beendet  der  Historiker  Saul Friedländer mit folgenden Worten: Für alle Überlebenden, so Friedländer, »blieben diese Jahre die bedeutsamste Zeit ihres Lebens. Sie waren in ihr gefangen: Immer wieder zog die Vergangenheit sie zurück in überwältigendes Entsetzen, und durchgängig weckte sie auch nach all den Jahren die unzerstörbare Erinnerung an die Toten.«

B: Ich würde das Wort ›Vergangenheit‹ bei Friedländer ändern und damit die Dimension der Zeit anders betonen: »Immer wieder zieht die Gegenwart sie zurück in überwältigendes Entsetzen.«